„We want a document“

Der Helsinki-Effekt, ein Film von Arthur Franck. Hier das Plakat.

Eine Doku über eine Konferenz, die sechs Jahre vorbereitet wurde, die dann 672 Stunden dauerte, deren Schlussakte  von 35 Staats- und Regierungschefs unterschrieben worden ist, die aber alle, ehe sie unterschrieben, nochmal Reden hielten: klingt wirklich nicht besonders prickelnd. Und doch ist „Der Helsinki-Effekt“ über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 einer der tollsten Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Wenn nicht sowieso der Tollste.

Der finnische Filmemacher Arthur Franck hat sich die Mühe gemacht, nicht nur alle Reden, die gehalten wurden, anzuhören und die Mitschnitte auch anzusehen. Sondern er hat sich auch durch die Protokolle gewühlt, die die Amerikaner von den Hintergrundgesprächen angefertigt haben. Konnte dann also nachlesen, wie Leonid Breschnew, Staatsoberhaupt der Sowjetunion, sich aufregte darüber, dass der finnische Präsident Urho Kekkonen Unmengen Kaffee trinken würde, das er da natürlich mithalten müsse, obwohl er innerlich Gott anflehe, dass auch mal Tee auf den Verhandlungstisch kommt. Franck hat Stellen gefunden in den Protokollen, in denen der amerikanische Außenminister Henry Kissinger bekennt, wie unheimlich langweilig er die Konferenz-Inhalte finden würde, dass seinetwegen die Ergebnisse auch auf Suaheli aufgeschrieben werden könnten. Er hat Filmschnipsel entdeckt, die Breschnew zeigen, wie er, da war die Konferenz so gut wie geschafft, Reportern gegenüber feixt und unheimlich glücklich wirkt. Weil er es ja auch gewesen war, der die Konferenz gewollt hatte. Er war geradezu versessen darauf gewesen, die Unverletzlichkeit der Grenzen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen worden waren, nochmal festgehalten zu wissen. „Document. We want a document“, habe er gesagt, steht in den amerikanischen Akten, freilich auf Englisch.

All das hat Franck mit viel Humor, erst eher auch mit ein bisschen Skepsis dem betriebenen Aufwand gegenüber, dann mit zunehmender Begeisterung zu schnellen, witzigen, lehrreichen und wirklich spannenden 88 Minuten montiert. Am Ende sitzt man im Kino und möchte einfach losheulen – in Anbetracht der Weltlage, in Anbetracht der Tatsache, dass wir nichts so dringend bräuchten wie genau die Form der langsamen Diplomatie, wie sie rund um die KSZE, der ersten Konferenz in der Form nach 1945,  gepflegt worden ist. Dass aber genau dafür im Moment keiner Zeit zu haben meint.

Der heimliche Star des Films ist natürlich Breschnew, der sich mit den Amerikanern auch über seine Gewichtsprobleme austauscht; der dem US-Präsidenten Gerald Ford versichert, die UdSSR würde auf jeden Fall seine Wiederwahl unterstützen – auch wenn Ford sich öffentlich immer sehr klar von der Sowjetunion abgrenzen würde. Es war dann ja so: Zum einen saßen auch unter ihm, Breschnew, in dessen Zeit zum ersten Mal der Eiserne Vorhang stellenweise ein wenig angehoben wurde, noch 200.000 politische Häftlinge in den russischen Gefängnissen. Zum anderen hat genau die KSZE, die er so dringend gewollt hatte, die die Amerikaner nur langweilte, an der für Deutschland Helmut Schmidt, für die DDR natürlich Erich Honecker teilnahmen, am Ende fast alles verändert. Denn Breschnew musste innenpolitisch Zugeständnisse machen, musste sich zur Achtung der Menschenrechte und zu Grundfreiheiten bekennen, musste Reiseerleichterungen für alle Länder des Warschauer Paktes zugestehen. Mit dem Effekt, dass die 100 Seiten dicke Schlussakte, die er unheimlich langsam unterschrieben hat, dazu führte, dass sich Helsinki-Gruppen gründeten im Osten, die auf genau die Einhaltung dieser Zugeständnisse pochten – auch wenn die Schlussakte selbst ja rechtlich gar nicht bindend gewesen ist. Langzeitfolge: der Fall der Mauer.

Im Januar 2023 hat Putin angekündigt, die OSZE, die ja aus der KSZE hervorgegangen ist, zu verlassen.

Arthur Franck sagt am Schluss des Films: „Ich wünsche mir mehr Konferenzmarathons. Gebt mir landende Flugzeuge, Händeschütteln, seitenweise unverständliche Absätze – all das ist immer besser als die Alternative.“ Auch Kissinger musste später übrigens zugeben, was er in seiner Autobiographie ja auch gemacht hat: „Die Nachwelt hat die KSZE“, die eine Art moderner Wiener Kongress gewesen ist, „als bedeutende diplomatische Leistung des Westens beurteilt. … In ihrer Planungsphase mäßigte sie das sowjetische Verhalten in Europa, danach beschleunigte sie den Zusammenbruch des Sowjetimperiums.“