„Da weinte das Mädchen wie nie zuvor und nie mehr wieder“

Es ist nur ein kleines Büchlein – und es lässt einen lange nicht los. Es geht darin um Auschwitz, ums Überleben in Auschwitz, um die Unmöglichkeit, nach Auschwitz ein neues Leben anzufangen. Geschrieben hat „Gebranntes Kind sucht das Feuer“, wie es heißt, Cordelia Edvardson, die Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer. Das Buch ist eigentlich schon 1984 erschienen, wurde schnell vergessen oder wahrscheinlich überhaupt nicht richtig wahrgenommen. Letztes Jahr kam es bei Hanser neu heraus, versehen mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, der 2022 den Elisabeth Langgässer-Preis bekommen hatte.

Auch Edvardson hat vom Schreiben gelebt, sie war als Journalistin tätig, hat aber auch einige Bücher veröffentlicht.

Sie galt, weil ihr Vater Jude war, die Mutter Halbjüdin, nach den wahnwitzigen Rassegesetzen der Nazis als „Dreivierteljüdin“. Was sie selbst nicht wusste, sie lebten christlich daheim, sie gehörte dem „Verein katholischer Mädchen“ an. Aber, wie sie schreibt gleich im ersten Satz des Buchs, das in der dritten Person abgefasst ist: „Natürlich hatte das Mädchen schon immer gewußt, dass mit ihr etwas nicht stimmte.“ Sie wünschte sich aber nichts so sehr, als einfach dazuzugehören.

Derweil waren die Verhältnisse daheim nicht einfach, Großmutter und Mutter lebten zusammen – ohne Männer. Die beiden veranstalteten ein Tauziehen darum, wie Cordelia zu erziehen war. Die Großmutter wollte nicht, dass die Kleine mit anderen Kindern spielt und stopfte sie bei Bedarf mit Süßigkeiten voll, die Mutter nahm ihr die Süßigkeiten teils wieder weg – und vereinnahmte sie mit ihren Geschichten und Spielen. Wenn sie dazu aufgelegt war. Elisabeth Langgässer war schön, eins der Spiele hieß „Strickbrüstchen“ und bestand daraus, dass sie, die Mutter, ihren Kopf auf die Brust des Kindes legte. Ein Spiel mit verdrehten Rollen.

Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht, die Tochter war vier, die Mutter heiratete einen Mann, der „Arier“ war, mit dem sie nochmal Kinder bekam. Erstmal reichte das, aber es reichte nicht lang. Langgässer besorgte für Cordelia jetzt einen spanischen Pass, das kam raus, die beiden wurden ins Gestapo-Hauptquartier in Berlin bestellt, dort vor die grauenhafte Alternative gestellt: entweder unterschreibt Cordelia, dass sie auch deutsch ist, was, das wussten beide, einen Abtransport in den Osten wahrscheinlich machte – oder die Mutter wird wegen Hochverrats angezeigt. Edvardson schreibt: „Unsicher sah die Tochter die Mutter an, und ihr Blick traf auf eine weiße Maske, worin der allzu rote Mund wie eine Wunde glühte. Von der Mutter war im Augenblick keine Unterstützung zu erwarten, das wurde dem Mädchen sofort klar.“

Also unterschrieb sie das Papier.

Sie war erst in Theresienstadt, dann in Auschwitz. Wo sie überlebte, weil Josef Mengele sie in seine Schreibstube holte. Sie schreibt, sie wurde aufgesaugt vom großen grauen Nichts. Während „der Leichenhaufen an der Längsseite der Baracke … ständig größer“ wurde, während sich die Aufseherin sonntags einen Spaß draus machte, Häftlinge mit ihren Schäferhunden in den Stacheldraht zu hetzen. Was den Tod bedeutete, der Stacheldraht stand unter Strom.

Am ersten Tag in der Früh, auf dem Weg zum Appell hatte Cordelia, die natürlich nichts mehr besaß, ein Papier auf dem Boden gesehen in ihrer Baracke, sie schreibt, sie bückte sich automatisch, hob das Papier auf – es war ein Foto ihrer Mutter. „Da weinte das Mädchen, wie sie noch nie geweint hatte und nie wieder weinen sollte; nicht so.“

Nach ihrer Befreiung gelangte sie nach Schweden, wurde dort gepflegt im Krankenhaus, kam in eine Familie. Manchmal, wenn sie im Restaurant war, dachte sie, sie muss aufspringen und es allen zurufen: „Ich bin hier. Ich, die ich voller Läuse und Krätze war und an rohen Kartoffelschalen genagt habe, ich, die ich nicht einmal einen Blechnapf besaß, um daraus zu essen, weil ihn mir jemand gestohlen hatte, ich bin hier!“ Natürlich konnte sie nicht einfach vergessen.

Trotzdem, sie schaffte es, auch selbst Familie zu gründen, sie bekam zwei Kinder. Aber sie hielt es in Schweden auf Dauer nicht aus: „In soviel Unschuld fiel ihr das Atmen schwer, und sie sah ein, daß sie aufbrechen mußte.“

Sie reiste nach Jerusalem, erstmal, um dort als Journalistin zu arbeiten. Sie schreibt: „Gebranntes Kind sucht das Feuer. Als sie in die verdunkelte Stadt kam, wußte sie, daß sie heimgekommen war. Dies war eine Wirklichkeit, die sie wiedererkannte, hier wollte sie bleiben.“

Ihre Mutter hat sie nach dem Krieg nur noch einmal getroffen. Die Begegnung dürfte nicht sehr innig verlaufen sein, meint Kehlmann. Aber das Buch hat Edvardson auch Elisabeth Langgässer gewidmet, neben ihren beiden anderen Müttern in Schweden und Israel. Und sie widmete das Buch zusätzlich ihren Kindern.

Sie starb 2012.