„Alles, was wir nicht erinnern“, ist schon vor einer Weile erschienen – im Mai 2022. Ich habe es jetzt erst gelesen – und empfehle es hiermit ausdrücklich.
Christiane Hoffmann, die Autorin, ist Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Also Journalistin. Sie hat sich der Geschichte ihrer Familie, die auch sie selbst nie losgelassen hat, auf sehr besondere Weise genähert: Sie lief die 550 Kilometer lange Strecke ab, auf der ihr Vater mit seinen Eltern aus Schlesien hatte fliehen müssen. Anfang 1945, in den letzten Kriegsmonaten, sie hörten oft auf ihrem Weg die Front, die nahenden Russen, den Krieg, „den Drachen“, wie Hoffmann schreibt. Ihr Vater war damals neun. Gesprochen wurde in der Familie über all das kaum – es ging nur immer darum, was aus wem von den alten Nachbarn geworden ist, letztlich wurden auch im neuen Zuhause immer nur die harmlosen alten Klatschgeschichten aus Rosenthal, wie das Dorf hieß, aus dem sie fliehen hatten müssen, erzählt. Warum sie weg mussten, wie sehr sie unter dem Verlust der Heimat litten, wie es ihnen dort, in Wedel (Schleswig-Holstein) ging, wo sie dann ganz von vorn wieder anfangen mussten: wurde nie mit einem Wort erwähnt.
Genau darum geht es aber Christiane Hoffmann, Jahrgang 1967. Sie will alles wissen, was von den Eltern und Großeltern, wie es im Titel heißt, eben nicht erinnert wurde. Sie will „den Schmerz … fühlen, über den in meiner Kindheit geschwiegen wurde, den Schmerz, den Ihr nicht fühltet, den ich nur ahnte, den es nicht geben durfte und der doch allgegenwärtig ist“.
Am 22. Januar 2020 machte sie sich auf den Weg, den sie als „Weg der Entwurzelung“ bezeichnet, sie war bestens vorbereitet. Hatte Polnisch gelernt, ohnehin ist, kann man sagen, der Osten ihre Himmelsrichtung. Sie war nie in den USA, Amerika interessierte sie nicht. Sie hat Slavistik studiert, berichtete eine Weile als Korrespondentin für die FAZ aus Moskau und Teheran. Die Wanderung jetzt auf den Spuren der eigenen Familie machte sie allein, genau das wurde sie immer wieder gefragt: Ob sie wirklich allein sei. Ja, sie kam in brenzlige Situationen, ja, sie hatte manchmal ziemlich Angst – vor Bären, vor durchgeknallten Autofahrern, davor, sich zu verlaufen, auch davor, den Verstand zu verlieren. In den Dörfern sprach sie mit den Leuten, sie fragte sie nach ihren Erinnerungen, nach dem, was ihnen erzählt worden ist von damals, 1945. Und sie erzählte von sich und ihren Eltern. Sie hatte als Kind, das ist ja der Wahnsinn, immer wieder von Flucht geträumt – genau davon also, was die Eltern ihr verschwiegen.
In den 70er Jahren hatten ihre Eltern wieder vorsichtig Kontakt aufgenommen zur alten Heimat, sie fingen an, sich mit der polnischen Familie, die jetzt in ihrem ehemaligen Haus wohnte, zu schreiben, sie schickten Päckchen nach Rosenthal, sie fuhren auch dorthin. Auch diese Familie war ja, wiederum von Stalin, aus der Westukraine vertrieben und in Rosenthal zwangs-angesiedelt worden.
Immer wieder fragt sich Christiane Hoffmann auf ihrem Weg, ob überhaupt auch die Deutschen sehen, was sie den Polen an Leid alles zugefügt haben. Ob vor allem die damals Vertriebenen nicht vor allem versuchten, ihr eigenes Leid, entstanden durch die Flucht, aufzurechnen gegen die Schuld, die die Deutschen auf sich geladen hatten. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass jedenfalls ihr Onkel Manfred genau das fand: Er habe genug gebüßt, für ihn sei die Geschichte damit beendet.
Sie schreibt auch: „Wir glauben, dass wir mit der Vergangenheit fertig sind, weil wir alles benannt und bereut haben. Weil die Historiker alles erforscht haben und es keine Geheimnisse mehr gibt. Andererseits: Wie weit sind wir eigentlich? Nicht einmal jeder fünfte Deutsche glaubt, dass unter seinen Vorfahren in der NS-Zeit auch Täter waren.“ Es waren, das weiß man, 80 Prozent der Deutschen ins Regime verstrickt.
Das Buch, gerichtet an und geschrieben für den Vater, liest sich bestens und ist unheimlich bewegend. Die Wanderung ist der Versuch, ein wenig zu versöhnen – wenigstens sich selbst mit den Lücken der Erinnerung. Man muss am Schluss wirklich schlucken, als sie berichtet, ihre beiden Töchter seien nun zum Zelten nach Polen gefahren mit Freundinnen, es sei für die Töchter das schönste Land gewesen, in dem sie je waren mit den freundlichsten Menschen, die sie je auf Reisen trafen. Drei bis vier Generationen, schreibt Hoffmann dauert es, bis halbwegs innerhalb einer Familie die Wunden der Geschichte verheilt sind. Vielleicht stimmt das ja.