Bitte, sprich dich aus

Das ist es ja genau. Wenn man sich mal die Mühe macht, einen Menschen näher kennenzulernen, wenn man ihm mal richtig zugehört hat, mit ihm vielleicht die eine oder andere traurige Geschichte, die er erzählt, durchlitten hat – dann hört man auf, ihn zu bewerten. Dann gibt es ihn halt einfach auch. Es heißt noch nicht, dass man ihn mögen muss. Aber der Lästerer in uns, der den anderen zur Minna machen will, der gleichzeitig damit ja immer nur bezweckt, dass wir selbst besser dastehen, der ist endlich: still.

Genau auf diesem Prinzip dürfte letztlich jede gelingende Therapie beruhen, nicht umsonst hat Freud die Vorform der Psychoanalyse „Redekur“ genannt.

Vor kurzem hat „Die Zeit“ nun etwas begonnen, was eigentlich völlig wahnsinnig ist, da absolut anachronistisch – und eben genau darum super toll. Und zwar haben Christoph Amend, Editorial Director des ZEITmagazins, und Jochen Wegner, Chefredakteur ZEIT ONLINE, begonnen, Interviews zu führen mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, bei denen die Interviewpartner soviel Zeit bekommen, wie sie brauchen, um ihre Standpunkte darzulegen, um zu erklären, worum es ihnen geht. Herauskommen dabei bis zu acht, zehn, auch zwölf Stunden lange Gespräche, die man schönerweise alle nachhören kann, Überschrift:  „alles gesagt?“

Nele Pollatschek, die sich das Ganze für die „Süddeutsche“ jetzt mal genauer angesehen hat, meinte: Das Anhören der Interviews mache einen zu einem besseren Menschen. „Einem, der versteht, dass auch Positionen, die man nicht teilt, aus hehren Motiven rühren können… Wenn Autorin Juli Zeh ihre Krankengeschichte erzählt, begreift man alles, was einen bei Corona-Fragen mal aufregte, und egal wie man zum Gendern steht, nach ein paar Stunden ist völlig klar, warum die feministische Linguistin Luise Pusch Sprache genau so sehen muss.“ Sie habe, schreibt Pollatschek, nach Anhören der Interviews alle einfach nur umarmen wollen: Jens Spahn, Thea Dorn, Alice Hassers, Alice Schwarzer. Das Projekt, schreibt sie, sei wie „Fugenkitt für den Spalt in uns“.

Ein paar Kostproben? Paul Auster hat im Interview gesagt: „Den Menschen muss die Wahrheit über die Dinge erzählt werden. Wie sie damit umgehen, ist eine andere Frage.“

Alice Schwarzer: „Meine soziale Mutter war ein Mann.“

Thomas de Mazière: „Freundschaften in der Politik sind etwas sehr Seltenes.“

Es ist ganz sicher so: Auch wir sollten endlich anfangen damit, einander wirklich zuzuhören. Wahrscheinlich muss man das erst wieder lernen – falls wir es je gekonnt haben. Und: Wenn wir mit unseren Eltern übers Leben sprechen, über deren Leben, über unser Leben mit ihnen, sollten wir sie vielleicht auch genau: so lange reden lassen, bis endlich. Alles. Gesagt ist.

https://www.zeit.de/serie/alles-gesagt