Dass Erich Kästner ein Mensch war mit mehreren Gesichtern – das ist einigermaßen bekannt. Zum Beispiel war er im richtigen Leben nicht wirklich so kinderfreundlich wie man das annehmen würde, wenn man seine Bücher liest. Zu seinem Sohn Thomas hatte er ein kompliziertes Verhältnis, und wenn er die Eltern von Anatol Regnier besuchte, dann ermahnten die vorher ihre Kinder, dass sie auch ja still sein sollten. Der Kinderbuchautor Kästner hielt Kinderlärm nicht gut aus.
Jetzt ist von Tobias Lehmkuhl ein Buch erschienen darüber, wie der große Moralist sich während des „Dritten Reichs“ verhalten hat, Titel: „Der doppelte Erich“. Kästner ist ja, das weiß man, nicht emigriert, dabei war es mitnichten so, dass unter den Nazis ein nettes Leben auf ihn gewartet hätte. Sie hatten im Mai 1933 in Berlin auch seine Bücher verbrannt, er stand am Rand dabei und schaute sich das schlimme Spektakel an. Wurde erkannt. Ging dann heim. Und packte trotzdem nicht die Koffer. Zum Teil wohl auch, weil ja seine Mutter, die einzige stabile, in dem Fall vielleicht leicht ungesunde Frauenbeziehung seines Lebens, hier lebte, die zwei schrieben sich täglich. In den Briefen gab er sich unbesorgt und selbstbewusst. Und dann, das sagte er immer, hatte er wohl vor, über die grauenhafte Zeit später einen Roman zu schreiben, er meinte, er müsse dokumentieren, was vor der Haustür passiert. Aber den Roman hat er dann eben nicht zu Papier gebracht. Er gab nur eine redigierte Fassung seines Tagebuchs, das aber auch längst nicht alle zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft berücksichtigt, heraus: „notabene 45“.
Erich Kästner wurde zweimal von der Gestapo verhört. Im „Deutschen Reich“ durfte er nicht mehr publizieren, aber er veröffentlichte weiter im Ausland – und seine Leser konnten die Bücher dann übers Ausland weiter beziehen. „Das fliegende Klassenzimmer“, „Drei Männer im Schnee“ und „Der kleine Grenzverkehr“ kamen so auch auf den deutschen Markt. Anfang 1936 war ihm auch dieser Weg verbaut, damit hatte er Schreibverbot. Er schrieb trotzdem weiter, unter Pseudonym, und dann schrieb er sogar, was eigentlich unfassbar ist, 1941 das Drehbuch für den „Münchhausen“, den wichtigsten Ufa-Film dieser Jahre. Um wieder arbeiten zu können, bewarb er sich um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, was nicht bewilligt wurde. Lehmkuhl wirft ihm vor, und das ist ja auch berechtigt, indem er eben doch weiter schrieb, habe er zur Unterhaltung und Ablenkung beigetragen, und das ist ja, was die Nazis wollten. Die Leute bei Laune halten – damit sie weiter den Krieg ertragen, weiter die Augen zumachen vor dem, was vor ihren Augen geschah.
Aber: Weiter saß er täglich im Kaffeehaus, er machte sich nicht unsichtbar. Und er verbreitete auch keine NS-Propaganda, überhaupt nicht, im Gegenteil: Seine Protagonisten, also die, mit denen sich der Leser identifiziert, blieben weltoffen im Kopf, mochten Frankreich, mochten Russland. Aber natürlich versuchte Kästner zu rechtfertigen, dass er hiergeblieben war, einmal sagte er: „Der Held ohne Mikrophon und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag, hat keine politischen Folgen. … Er stirbt offiziell an Lungenentzündung. Er wird zur namenlosen Todesanzeige.“
Nach dem Krieg knüpfte er nahtlos an an sein Schriftsteller-Leben vor der NS-Zeit. Beziehungsweise arbeitete er vorwiegend als Journalist, an Büchern kamen nur noch das „Doppelte Lottchen“, die Geschichten vom „Kleinen Mann“ und die „Schule der Diktatoren“, die gründlich misslungen ist. Lehmkuhl schreibt, „eine Art Schatten“ habe sich auf sein, Kästners, Leben und Werk gelegt, „etwas ist beidem entzogen, das bis dahin dem Ganzen einen gewissen Schmelz, seinen Witz gegeben hatte“. Was für ein trauriges Fazit.