Im Februar 2024 – gut, ist schon ein bisschen her – ist der Germanist und Politologe Alfred Grosser gestorben. Er war ein Grenzgänger, als Deutscher geboren, dann Franzose geworden. Immer kritischer Atheist geblieben – er kam aus einem jüdischen Elternhaus. Sein Vater war Kinderarzt und Klinikdirektor in Frankfurt gewesen, hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft, 1933 nahmen ihm die Nazis sein Eisernes Kreuz erster Klasse wieder weg. Er konnte fliehen mit der Familie, erst nach Paris, dann von Paris nach Südfrankreich, dann, als auch dort die Deutschen einfielen, in die Berge. Verwandte von Alfred Grosser wurden von Nazi-Deutschland ermordet.
Und doch hat er immer gewusst, „dass der Hass auf ein Kollektiv nicht die angemessene Antwort auf einen kollektiven Hass sein konnte“. Er setzte sich für Versöhnung ein, er sagte, „dass man von jungen Deutschen nur dann verlangen kann, das Ausmaß deutscher Verbrechen zu verstehen, wenn man auch Verständnis zeigt für das deutsche Leiden“. Rund drei Dutzend Bücher hat er geschrieben, sein Ziel: „durch Wissen und Wärme aufklärerisch zu beeinflussen“.
Und immer hat er sich, schrieb die SZ in einem Nachruf, damit befasst, was eigentlich die Identität eines Menschen ausmacht, und er kam zu dem Schluss, dass jeder eine Vielzahl von Identitäten hat, man sei ja Deutscher oder Franzose und Mutter oder Vater und Angestellter oder Freiberufler zugleich. Niemand solle sich auf nur eine Identität festlegen lassen, und um die Identitäten der anderen zu erkennen, sei es wichtig, in „kritische Distanz“, so die SZ, zu den eigenen Identitäten zu gehen. Genau das, und das ist der Grund, warum ich hier über Alfred Grosser schreiben wollte, erreicht man, wenn man sein Leben aufschreibt. Grosser wurde, wenn er Israel mal kritisierte, hin und wieder übrigens vorgeworfen, er leide an „jüdischem Selbsthass“. Was er dazu sagte? „Ausgeschlossen. Ich liebe mich zu sehr.“