Ich sage es in den Kursen immer wieder, und man kann es nicht oft genug wiederholen. Weil es so wichtig ist, vielleicht das Wichtigste überhaupt, wenn man sich daranmacht, sein Leben aufzuschreiben und dabei unter Umständen das der Eltern und Großeltern zu integrieren. Erinnern ist nur mit Liebe möglich. Ein Freund von mir hat das vor einiger Zeit mal zu mir gesagt, und ich stimme ihm vollkommen zu.
Der britische Schriftsteller Julian Barnes, einer der vielseitigsten Schriftsteller der Gegenwart, von dem gerade ein Roman über einen französischen Frauenarzt in der Belle Époque erschienen ist, hat vor kurzem in einem Interview betont, wie wichtig es sei, sich – wie soll man sagen – nicht hochmütig der Vergangenheit zu nähern. Er sagte wörtlich: „Ich tue mich ohnehin schwer mit der Unsitte der Gegenwart, allzu vorschnell Urteile über die Vergangenheit zu fällen. Die Gegenwart will sich zu gerne besser fühlen, indem sie sich über die Vergangenheit erhebt. Als wäre der alleinige Zweck der Vergangenheit gewesen, zu uns zu führen. Was für eine naive und eitle Vorstellung. Wir verwechseln auch oft wissenschaftliche mit moralischen Fortschritten. Wir mögen heute länger leben, weiter reisen und Informationen leichter abrufen können. Aber das macht uns nicht zu besseren Menschen.“ Genau so, finde ich, sollte man auch zurückblicken auf die eigenen Vorfahren. Sie waren ja nicht nur auf der Welt, damit eines Tages in dieser Welt wir geboren werden würden. Sie waren auf der Welt, weil sie ein Leben hatten, ein Leben wie unser Leben, das sie so gut wie möglich zu gestalten versuchten.
Julian Barnes: Der Mann im roten Rock, Kiwi, 24 €.