„Die Reise nach Ordesa“ von dem spanischen Autor Manuel Vilas ist ein sehr besonderes Buch. Vilas erzählt darin von seinen Eltern, die beide schon gestorben sind, die er offenbar sehr liebte, vor allem den Vater. Der Vater war für ihn ein Held, die Freunde des Vaters waren für ihn Helden, aber komisch: Der Vater interessierte sich nie dafür, wo Vilas gerade wohnte (während seiner Studienzeit), und als nicht klar war, ob das erste Kind von Vilas, das geboren wurde am Hochzeitstag der Eltern, den die immer feierten, ohne zu sagen, dass es ihr Hochzeitstag war, überleben würde, rief er nicht an. „Er wusste“, schreibt Vilas in seiner sehr besonderen Art, „dass Umarmungen nicht gehen“. Über seine Mutter schreibt er: „Niemand weiß, wie er sterben wird, und unsere Furcht davor ist reine Melancholie; und die Tradition der Melancholie müsste wieder aufleben. Ein Wort, das nicht mehr benutzt wird. Die Melancholie wird heute Zwangsstörung genannt. Meine Mutter war melancholisch…“ Vilas berichtet in dem Buch auch davon, dass er als Neunjähriger missbraucht worden ist von einem Priester in seinem Internat, er weiß, dass der Mann ihn zu sich rief, ihm ständig über den Kopf strich, aber er kann sich nur noch an das Licht im Raum erinnern, das durch die Fenster förmlich reinknallte, an das Zingulum, die Kordel, die die Soutane des Mannes zusammenhielt, erst zusammenhielt und dann nicht mehr zusammenhielt, er schreibt: „Nach den Liebkosungen kommt ein Blackout.“ Er weiß nicht mehr, was dann passierte, „ich gehe ein ums andere Mal zu dieser Erinnerung zurück“ – aber da ist nichts, nur eine Leerstelle. Vilas hat seinen Eltern von dem Ganzen nichts erzählt, er fühlte sich schon schuldig, da war es kaum vorbei, er schreibt: „Das Problem des Bösen ist, dass es einen schuldig macht, wenn es einen berührt. Das ist das große Geheimnis des Bösen: Die Opfer werden immer zu Schuldigen von etwas, das sich ebenfalls das Böse nennt. Die Opfer sind wie Exkremente. Die Leute tun immer so, als hätten sie den Opfern gegenüber Mitleid, aber in ihrem Innern empfinden sie Abscheu.“ Vilas schreibt auch, und das finde ich sehr schön, dass die einzige Art, sich zu erinnern, die hilfreich ist, darin besteht, die Erinnerung mit Liebe zu koppeln: „Die Vergangenheit eines jedweden Mannes oder einer jedweden Frau über fünfzig wird zu einem Rätsel. Es ist unmöglich, es zu lösen. Das einzige, was man machen kann, ist, sich in das Rätsel zu verlieben.“ Berlin Verlag, 24 €.