„Mein Erwachsenenleben war wie weggewischt“

Die Serie im Feuilleton der SZ „Meine schlimmste Lesung“ ist ohnehin super. Elke Heidenreich hat darin erzählt, welche beknackten Zwischenrufe sie ertragen musste, während sie Passagen aus einem ihrer Bücher vortrug, am Ende sagte eine Frau zu ihrem Mann, als sie mitbekam, was Heidenreich an Honorar erhielt: „Ich glaub, wir schreiben jetzt auch einfach Bücher.“ Michael Krüger, ehemals Hanser-Verleger, berichtete, wie er während einer Lesung beziehungsweise der unvermeidlichen Diskussion nach der Lesung gedanklich versank in einen Bericht, den Kafka mal von der Begegnung mit seinem Publikum verfasst hatte. Die vielleicht berührendste Geschichte ist aber heute, 26. August 2022, in der Zeitung: Flake Lorenz, Keyboarder von Rammstein, der über sein Musikerleben zwei Erzählbände („Der Tastenficker“, „Heute hat die Welt Geburtstag“) verfasst hat, schreibt, wie er, weil eigentlich niemand gescheit zuhörte, weil alle, während er las, das Klo suchten oder den Ausgang, während seiner ersten Lesung zurückfiel ins Stottern, das er schon als kleiner Junge gehabt hatte.

Er war, erzählt er, nicht im Kindergarten, beziehungsweise schreibt er viel lustiger: „Nicht gut für Lesungen und andere öffentliche Auftritte: Ich bin im Umgang mit Menschen unbeholfen. Das begann schon im Kindergarten. Da war ich nie.“ Später ging er den Mitschülern lieber aus dem Weg, daheim kniete er vor dem Radio und hörte Musik. „So wie andere Leute essen und trinken, ernährte ich meine Seele mit Musik…“ Seine Heimat wurden „der Bus und die nach kaltem Rauch und saurem Bier riechenden Kulturhäuser“. Als dann die Band plötzlich eine Pause machte, „für das Privatleben oder so“, besann er sich darauf, dass er auch Bücher immer geliebt hatte. „Ich habe mal festgestellt, dass die meisten Leute vollkommen abwegige Vorstellungen vom Leben eines Rockmusikers haben, ich zum Beispiel.“ Er hatte angefangen, verschiedene Situationen festzuhalten, „um das Bild etwas geradezurücken“. Dann rief er einen Verleger an und fragte, ob das interessant sein könnte, und der Verleger sagte gleich, er würde mit seinen Geschichten ein Buch „herausbringen“, Mindestanzahl der Wörter: 80.000.

Daraufhin schrieb Flake Lorenz und schaute immer drauf, wieviel Wörter er schon hatte, dann waren es mehr als 80.000, und er gab das Ganze ab. Als er auf der Frankfurter Buchmesse daraus lesen sollte, hatte er schon wieder vergessen, was drinstand. Dann die Irritation, dass keiner gescheit zuhörte. „Mitten auf der Buchmesse war mein Leben als Erwachsener wie weggewischt.“ Er dachte sich hinterher: Ich lese nie wieder, und dann las er sofort wieder. Und wieder. „Ich habe aufs falsche Pferd gesetzt. Und das hat auch noch gewonnen.“