Vom „kochenden Innenleben“ der Eltern

Edgar Selge. Foto: Muriel Liebmann

Vor ein paar Tagen war ich bei einer Lesung von Edgar Selge. In den Kammerspielen in München. Es war der letzte Tag vor dem Teil-Lockdown, die Kammerspiele waren voll, und es war ein bisschen wie an Weihnachten. Man wusste, am nächsten Tag wäre vieles vorbei von dem, was genau in dem Moment so schön ist.

Selge hat fünf Jahre an seinem Buch „Hast Du uns endlich gefunden“ geschrieben. In dem erzählt er, das hab ich hier ja schon erwähnt, von seinem Aufwachsen, aus der Sicht des 12-jährigen Jungen, der er gewesen ist. Er sagte: „Ich mochte nicht aus dem Leben gehen, ohne zurückgeblickt zu haben.“ Erst hatte er, was er erzählen wollte, aus heutiger Sicht berichtet, aber er merkte: „Ich kann als Erwachsener nicht darüber schreiben.“ Irgendwann war ihm klar, nachdem er eine Weile tagsüber geschrieben und abends verworfen hatte, was er geschrieben hatte, dass er sich als Kind erzählen lassen muss. Dann lief es. Eine „Fülle von Details“ sei in ihm hochgekommen, die ihm als Erwachsener nicht in den Sinn gekommen wären. Im Geiste spielte er, der große Schauspieler, also sein Leben noch einmal nach. Er träumte öfters von seinen Eltern, der Titel seines tollen Buchs ist ja ein Zitat aus einem der Träume.

Selges Eltern waren sozialisiert worden in der NS-Zeit, ihr Denken, ihre Träume: wurde alles grundgelegt im Nationalsozialismus. Sie konnten nicht umlernen, das brachten ihnen letztlich ihre erst vier, dann nur noch drei, am Schluss zwei Söhne bei. Anfang der 70er Jahre, als die Kinder längst aus dem Haus waren, fuhren sie dann nach Auschwitz, sie waren in Israel. Die Mutter sah sich die Wehrmachtsausstellung an. Daraufhin bekam sie einen Magendurchbruch, an dem sie letztlich gestorben ist.

In den Kammerspielen sagte Edgar Selge, es sei zuhause natürlich nicht über Trauer geredet worden. Er habe als Kind versucht, die Heldenphantasien des Vaters, die keine Grundlage mehr hatten, weiter zu leben, er spielte ja immer Krieg im Birnbaum. Schlich sich ins Kino, um Kriegsfilme anzusehen. Das „kochende Innenleben der Eltern“ sei so weitergetragen worden. Die Fähigkeit, wie es Margarete und Alexander Mitscherlich genannt haben, zu trauern: „Die haben wir alle vermisst.“ Er sagte auch, es sei ein „Akt der Humanität“, die Eltern am Ende als Menschen zu sehen. Selge meinte, man müsse vielleicht alt werden, um zu verstehen, dass Scham (darüber unter anderem, dass man geschlagen worden ist vom Vater) und Liebe nebeneinander stehen dürfen. In Deutschland, das sagte er auch, habe Kultur immer vor der sozialen Kompetenz gestanden. Aber die Kultur reichte nicht aus, um Deutschland vor dem Nationalsozialismus zu bewahren.

Es ist sicher einen Versuch wert, auch für die eigene Biographie mal wieder die Position des Kindes einzunehmen, das man vor langer Zeit gewesen ist.