Ich musste weinen. Ich musste lachen. Ich wurde wütend.

Das Cover zeigt die beiden Schwestern, die Autorin ist links.

Ich bin eine Weile um dieses Buch herumgeschlichen – ich war mir nicht sicher, ob ich das so genau wissen will: warum sich die große Schwester der Autorin (Bettina Flitner) das Leben genommen hat. Jetzt war ich auf Reisen und hatte nichts mehr zu lesen und habe mir „Meine Schwester“ doch gekauft. Und bin absolut begeistert und berührt, der Roman ist die Geschichte einer Familie, ist die Geschichte einer Generation, ist die Geschichte davon, wie machtlos man ist, wenn die „schwarzen Raben“ einziehen ins eigene Haus, sich dort überall niederlassen, dann dasitzen und da bleiben und keiner weiß, wann sie endlich wieder abhauen, sprich: wenn ein Familienmitglied unter Depressionen leidet. Das Buch ist sehr sehr toll geschrieben, stellenweise auch lustig, dann wieder nur traurig – aber immer auf den Punkt erzählt.

Dabei, das ist ja auch das Schmerzhafte, war es genau Sanne, die Ältere der beiden Schwestern, die als Kind immer die Ideen hatte für lustige Spiele, die aber auch irgendwann komischerweise anfing, Kleidung zu zerschneiden, und die dann, mit um die 60, kapitulierte vor der Krankheit. Sie hatte, obwohl sie als Kind umwerfend gut andere nachmachen hatte können, obwohl sie anhand seiner Bewegungen den Charakter eines Menschen erkannte, obwohl sie soviel konnte und war, beruflich nie Fuß gefasst. Sie war die Beste gewesen beim Theaterspielen in der Schule, aber sie hatte als Jugendliche dann auch Phasen gehabt, in denen war sie dick, in denen ließ sie sich mit den falschen Männern ein.

Zu der Zeit war die eigene Familie, die auf Empfängen Hannah Arendt getroffen hatte, die bei Familienfesten Walter und Inge Jens erwartete, schon auseinander geflogen. Der Vater betrog nonstop die Mutter, die Mutter betrog immer wieder den Vater, und wenn einer der Liebhaber der Mutter zu Besuch kam, dann sagte der Vater: „Der-und-der ist ein guter Freund der Familie.“ Mit ihrem letzten Liebhaber zog die Mutter sogar zusammen, und sie nahm einige Einrichtungsgegenstände mit, auch den Herd. Auch sie hat sich tragischerweise umgebracht, mit nur 47 Jahren.

„Wenn ich einmal erwachsen bin“, hatte Sanne zu ihrer kleinen Schwester, als sie beide noch in die Waldorfschule gingen, in einer großen Pause mal gesagt, „dann kauf ich dir Lackschuhe und Herzchenohrringe“. Irgendwann, viel viel später, brachte sie Tina, der Autorin also, einen kleinen Pappkoffer mit, rot mit weißen Punkten, er sah genau so aus wie der Pappkoffer bei Ami und Api, den Großeltern, mit dem und vor allem mit dessen Inhalt sie als Kinder immer heimlich gespielt hatten. „Da sind wir drin“, sagte Sanne. Drin waren dann Lackschuhe und Herzchenohrringe, und vier Monate später hisste sie in Anbetracht der aufdringlichen schwarzen Vögel in ihrem Leben die weiße Fahne. Und gab endgültig auf.

Durch das Schreiben habe sie von den vielen Fragen, die sie jahrelang gequält haben, kaum eine beantwortet bekommen, schreibt die kleine Schwester. Im Gegenteil. „Es sind noch mehr Fragen hinzugekommen. Aber vielleicht ist es ja so, dass die Fragen wichtiger sind als die Antworten. Eins aber hat sich grundlegend verändert. Schon als ich schrieb, habe ich es gemerkt. Das Gefühl des Ausgeliefertseins wich. Es wurde leichter, immer leichter. Ich tauchte zurück und holte Stück für Stück hoch. Alles, was seit Jahren in Kommode und Keller gelegen hatte. Ich fand Briefe und Fotos und ein Tagebuch. Ich musste lachen. Ich musste weinen. Ich wurde wütend.“  Einmal träumte sie, sie würde ihre große Schwester treffen und ihr endlich die wichtigste Frage von allen stellen: warum? Im Traum antwortete Sanne: „Ich weiß es nicht.“

Bettina Flitner: „Meine Schwester“, Kiepenheuer & Witsch, 22 Euro