Traurige Jahrhundertspiele

Es waren die Spiele des Jahrhunderts. Die sich so heiter gaben mit dem in Pastellfarben gestreiften Dackel Waldi als Maskottchen, die so betont lässig daherkamen und aller Welt zeigen sollten, wie sehr sich Deutschland gewandelt hat. Dass die Bundesrepublik es nicht mehr nötig hatte, wie 1936 in Berlin, martialisch aufzutreten, Geschlossenheit um jeden Preis zu demonstrieren – und einen Sportler wie Lutz Long hinter den Kulissen zusammenzustauchen, nur weil er seinen schwarzen Kollegen Jesse Owens in aller Öffentlichkeit umarmt hatte.

Aber Olympia 1972 wurde dann auf seine ganz eigene Art zur Katastrophe, weil am 5. September palästinensische Terroristen einen Anschlag verübten auf die israelische Mannschaft, den keiner der elf Sportler überlebte. Was leider auch damit zu tun hatte, wie dilettantisch die Münchner Polizei versuchte, die Betroffenen zu befreien am Flughafen Fürstenfeldbruck. „Nicht die kleinsten Bemühungen“ seien unternommen worden, „um Leben zu retten“, meinte später Mossad-Chef Tzwi Zamir, der das Ganze vom Tower aus beobachtet hatte. Überhaupt, und das ist vielleicht die schmerzhafteste Erkenntnis von allen, hätte das Attentat unter Umständen verhindert werden können. Wenn, ja wenn die Sicherheitsbehörden und Organisatoren die vielen Warnungen im Vorfeld, die bei ihnen ja eingegangen waren, ernster genommen hätten.

Das alles – und noch viel viel mehr – kann man nachlesen in dem wirklich großartigen Buch „Die Spiele des Jahrhunderts“, das die SZ-Kollegen Roman Deininger und Uwe Ritzer in dreijähriger Kleinarbeit recherchiert und geschrieben haben. Auf über 520 Seiten erzählen sie wirklich jede Geschichte, die sich im Zusammenhang mit den Spielen erzählen lässt. Auch Carl Gustaf und Silvia Sommerlath kommen natürlich vor im Buch, und ebenso der Tiger Tua, den lustigerweise die malaysische Mannschaft den Gastgebern mitgebracht hatte, der aber, wie sich dann in Hellabrunn zeigte, von miesen asiatischen Würmern befallen war und außerdem Rückenprobleme hatte.

Deininger und Ritzer haben für ihr Projekt mit vielen Sportlern gesprochen, auch mit Hinterbliebenen der ermordeten Israelis, die noch heute auf eine Entschuldigung aus München warten. Wichtigster Interviewpartner war Hans-Jochen Vogel, damals Münchner OB, der vor zwei Jahren, im Juli 2020, gestorben ist. Und den beiden, ehe er sie vorließ, erstmal eine längere Leseliste diktierte, zum Abarbeiten vor dem Gespräch.

Wer ihr Buch liest, dem wird auch wieder die politische Dimension bewusst, die die Spiele jenseits des Anschlags hatten. Die Mannschaft der DDR trat damals erstmals unter eigener Fahne, mit eigener Hymne an – und wurde zur Erleichterung aller Beteiligten bei der Eröffnungsfeier freundlich beklatscht. Und nachdem Mark Spitz, der amerikanische Schwimmer und Superstar von München 1972, in den alle Frauen verliebt waren und den sie teils beobachteten, indem sie aufs tolle Olympiadach kraxelten (das dann, um dem ein Ende zu bereiten, ab und an eingeseift wurde), den Russen berichtet hatte, sein Schnauzer diene auch dazu, das Wasser zu teilen vor dem Körper, trugen auffällig viele Russen bei den nächsten internationalen Wettkämpfen einen Oberlippenbart.

Bekanntlich ließ man trotz des Attentats die Spiele weiterlaufen. Heiter war jetzt nichts mehr, die Künstler auf der Spielstraße im Olympiadorf bekamen Auftrittsverbot – und trotzdem wurde es noch mehrfach richtig spannend. Etwa, als völlig überraschend das bundesdeutsche Team mit Annegret Richter und Heide Rosendahl den Konkurrentinnen aus der DDR in der 4 x 100-Meter-Staffel davonlief. Obwohl für die DDR Renate Stecher mit am Start war, damals beste Sprinterin der Welt.

Ansonsten? Entwirft das Buch, wie man immer so sagt, das Panorama einer ganzen Epoche. Die ersten 200 Seiten erzählen die Vorgeschichte zu Olympia in München, beschreiben noch einmal die Farce, die die Olympischen Spiele 1936 in Berlin gewesen sind. Am Ende wird der Bogen gespannt bis heute. Denn erst 2017, vor fünf Jahren, hat es die Stadt geschafft, für die Ermordeten von 1972 einen Erinnerungsort im Olympiapark einzurichten. Dass zur 50-Jahr-Feier der Spiele im Herbst die Hinterbliebenen anreisen, ist erstmal eher unwahrscheinlich.