Die Rätsel, in die du hineinwächst

Judith Hermann hat ein neues Buch geschrieben, es sind die Buch gewordenen Poetikvorlesungen, die sie in Frankfurt gehalten hat und von denen nicht klar gewesen war, dass sie ein Buch werden würden. Weshalb sie, wie sie sagt, freier war beim Schreiben. Sie war freier beim Schreiben, weil sie dachte, sie liest die Sachen einmal runter, und wer nicht zugehört hat, hat Pech gehabt, es gibt kein zweites Mal. Jetzt aber ist das Ganze ein Buch geworden, es heißt „Wir hätten uns alles gesagt“, und es geht darin natürlich ums Schreiben, beziehungsweise, siehe Untertitel, ums „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“, gleichzeitig ums Träumen, das vielleicht dasselbe ist wie das Schreiben, und es geht um das Aufwachsen von Judith Hermann und die Psychoanalyse, die sie gemacht hat, um das Aufwachsen zu ordnen. Es ist ein wunderschönes Buch mit vielen schönen Sätzen, mit sehr vielen schönen Bildern und auch mit ein paar Rätseln, die immer bleiben, wenn man von seinem Leben erzählt. Man muss natürlich bereit sein, sich auf das Vorhandensein von Rätseln einzulassen.

Judith Hermann sagt, sie habe zu dem Buch keine einzige Rezension gelesen, weil sie Angst hatte, dass eine der Rezensionen sie zu sehr verletzen könnte, weil das Buch so persönlich geworden ist, im Vorwort schreibt sie: „Die Arbeit an dieser Vorlesung ist nicht einfach gewesen.  Auf dem Weg von ihrem Anfang bis zu einem Ende hin ist unerwartet Privates im Text aufgetaucht, es wird sich zeigen, ob das zu bereuen ist.“

Sie sagt, sie hat immer an ihrem Leben entlang geschrieben, anders sei Schreiben für sie nicht denkbar, aber sie hat an ihrem Leben entlang geschrieben, ohne das Eigentliche anzusprechen. Auf ihrem Schreibtisch sitzt eine kleine Puppenhaus-Puppe, mit der sie als Kind gespielt hat in einem Puppenhaus voller geheimer Winkel, versteckter Räume, über Geheimgänge erreichbarer Zimmer, und auch auf ihrem Schreibtisch steht eine Karte mit einem Satz von Einar Schleef drauf: „Erinnern ist Arbeit.“

Judith Hermann schreibt: „Vielleicht ein Grundbild der Kindheit – Rätsel, in die du hineinwächst. Andeutungen wie Treidelpfade, Heimlichkeiten. Die geheimnisvolle Welt der Erwachsenen, ihr unbegreifliches Verhalten, ihre unberechenbaren Stimmungen. Die eigene Welt, begrenzt und entgrenzt zugleich, das Auftauchen von Strukturen wie das erste verwaschene Grau einer Dämmerung, das allmähliche Begreifen von Mustern, von Abhängigkeiten.“ Und sie schreibt: „Geschichten schreiben heißt misstrauisch sein. Lesen heißt, sich darauf einzulassen. Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum der Geschichte ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen.“

Jeder, der schreibt, sollte „Wir hätten uns alles gesagt“ lesen. Aber alle, die nicht schreiben, sollten es auch lesen. Weil das Buch einen ermahnt beziehungsweise ermuntert, zarter zu werden im Denken.