„Wahre Liebende trinken nicht aus einem Glas“

"Ein Leben in Geschichten", 80 Jahre Leben in 29 Erzählungen.

Über Helga Schubert wollte ich schon lang mal schreiben. 2020 bekam sie, mit 80, den Bachmannpreis in Klagenfurt. Die Geschichte, die sie dort las, hieß „Vom Aufstehen“ – und wurde dann auch titelgebend für ein Buch, das dtv mit weiteren Texten von Schubert herausgab, schöner Untertitel: „Ein Leben in Geschichten“. „Vom Aufstehen“ handelt von Schuberts Mutter, die die DDR, wo die beiden lebten, nie verlassen wollte, die ihre Tochter morgens weckte, indem sie ihr die Bettdecke wegzog, die ihr zum Einschlafen was vorsang und die immer wollte, dass Helga Schubert über sie schreibt. Aber die konnte das nicht, solang die Mutter lebte. Die Mutter wurde alt. Mit 101 Jahren, einen Sauerstoffschlauch in der Nase, sagte sie ihrer Tochter: „Wir wollen doch noch ein bisschen leben.“ 

Jetzt hat Helga Schubert ein neues Buch geschrieben, es heißt „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ und geht um ihren schwer herz- und nierenkranken Mann, den sie seit Jahren pflegt. Er ist 96, sie ist 83, in einem Interview mit dem „Spiegel“ erzählte Schubert, sie sei oft enttäuscht worden, wenn sie andere Leute um Hilfe gebeten hat, andererseits habe sie vielfach von unerwarteter Seite Hilfe angeboten bekommen. Sie sagte: „In meinem 83. Lebensjahr bin ich zu dieser Weisheit gelangt: Man wird nur enttäuscht, wenn man Unterstützung einfordert.“ Und: „Erwachsen zu sein, heißt, ohne Vorwurf zu leben.“ Es sei so – man sei allein im Leben, auch zu zweit: „Wir müssen selber zusehen, dass wir nicht untergehen. Wenn man auf das Brett eines anderen steigt, wird es kentern.“ Ansonsten sei Liebe „kein Zustand“, sondern eine Aufgabe, sie zitierte ein Sprichwort, mit dem sie früher nichts anfangen habe können, das sie jetzt voll und ganz unterstreichen könne: „Wahre Liebende trinken nicht aus einem Glas.“ Ein super Satz. 

Derweil ist meine Lieblingsgeschichte in „Vom Aufstehen“ nicht die über die Mutter, sondern die über die Großmutter. Die wohnte auf dem Land mit ihrem Lebensgefährten, bei der verbrachte Helga Schubert als Kind die Sommer. Sie verkaufte Äpfel mit dem Lebensgefährten der Oma auf dem Markt. Sie durfte faulenzen, hat aber der Oma auch viel geholfen. „Nach dem Essen wusch sie alles gleich ab, ich dagegen musste nicht abtrocknen, sondern durfte mich in die Hängematte legen und lesen, bis ich einschlief und wieder aufwachte: Am gedeckten Kaffeetisch. Bis zum Ende des Sommers.“ Helga Schubert schreibt: „So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“ Manchmal reicht eben ein Mensch, der einem zugewandt ist, um eine Kindheit zu bestehen. Die Geschichte heißt: „Mein idealer Ort“. 

Dem „Spiegel“ gegenüber sagte Helga Schubert auch, dass man negativen Erinnerungen nicht zuviel Raum geben dürfe. Und sie redete darüber, wieviel das Aufschreiben von Erinnerungen bewirken kann. Sie sagte: „Man sollte nichts verdrängen, aber sich von der Vergangenheit nicht vereinnahmen lassen. Ich mache das durch mein Schreiben. Ich versuche, mich so genau wie möglich an eine Situation zu erinnern. Dann schreibe ich sie auf. Und wenn es aufgeschrieben ist, bin ich einen Tick leichter. Das Schreiben war immer meine Rettung.“