Nein, wir nicht

Mit seinem Roman ist Edgar Selge gerade auf Lesereise.

Jetzt hat auch der Schauspieler Edgar Selge seine Biographie vorgelegt beziehungsweise hat er einen Roman auf der Basis seiner Biographie geschrieben – und was soll man sagen: Das Buch, das heißt „Hast Du uns endlich gefunden“, ist unheimlich toll. Selge erzählt von sich als zwölfjährigem Jungen, der im Birnbaum Krieg spielt, der sich nachts ins Kino schleicht, heimlich, der sich die Gefangenen ganz genau ansieht, die sein Vater, der Gefängnisdirektor, regelmäßig zum Hauskonzert einlädt. Da sitzt er dann, der Vater, selbst am Klavier, begleitet wird er von einem Profigeiger. Hernach gibt’s Apfelsaft und Schnittchen.

Aber das ist es natürlich nicht nur. Es ist noch viel mehr. Leider, muss man sagen. Weil der Vater nicht nur sentimental ist und seine Gefangenen in Ansprachen als „Jungs“ anredet und durchblicken lässt, dass er an sie glaubt. Sondern daheim wütet er zwischenzeitlich schlimm herum, er schlägt alle seine Söhne und kommt ihnen auch sonst hin und wieder unangenehm nah. Weder er noch die Mutter schaffen es, ihre Haltung zum NS-Regime im Nachhinein zu reflektieren, sie verharren in einem sehr unangenehmen Trotz. Sind bei Juden eingeladen, nehmen Edgar mit, ermahnen ihn, sich klar zu sein darüber, dass sie gleich bei Juden zu Gast sein werden – und bringen keine Herzlichkeit zustande. Nicht alle Brüder von Edgar überleben, das ist ein weiteres Drama in der Familie.

Selge schreibt unaufdringlich, sehr empathisch, aber auch mit einer gewissen Distanz. Meine Lieblingsstelle im Buch bzw. eine von vielen Stellen im Buch, die mich besonders bewegt haben, ist die, in der Edgar in der Nacht mit dem Bettzeug unterm Arm zum großen Bruder ins Zimmer tapst. Er hat ein Buch entdeckt im elterlichen Bücherregal, darin eine Widmung von acht Wehrmachts-Generälen, unter ihnen auch Generalfeldmarschall Kesselring, sie bedanken sich beim Vater für dessen „Menschentum“.

Der Bruder erklärt dem Kleinen, dass der Vater die Generäle ein Jahr beaufsichtigt hatte im Zuchthaus in Werl, aber er beaufsichtigte sie eben nicht nur, sondern begünstigte sie. Ließ für sie einen Garten anlegen, Manstein, von dem man wusste, dass er auch in Kampfpausen gern Mozart hörte, verschaffte er einen Plattenspieler. Nach einem Jahr warfen die Alliierten ihn raus. Und jetzt fragt sein kleiner Sohn, der nach ihm benannt worden ist, seinen großen Bruder, was damit gemeint sein soll, wenn sich Kesselring und die anderen beim Papa für dessen „edles Menschentum“ bedanken. „Den Ausdruck kannst du vergessen“, erklärt ihm der Bruder, und: „Der ist für immer vergiftet. Den haben die Nazis reserviert. Nur für sich. Für ihresgleichen. Das musst du dir klarmachen und an die Juden und die KZs denken!“ Dann: „Kann man so einen Ausdruck nie mehr gebrauchen?, frage ich meinen Bruder. Nein, sagt er. Wir nicht. Wir können den nie wieder gebrauchen. Wir müssen andere Wörter finden, wenn wir etwas Gutes über den Menschen sagen wollen.“

Was mich auch noch fast schon mitgenommen hat: wie Selge, und zwar der Bub, der er war, ebenso wie der 73-Jährige, der er heute ist, damit hadert, trotz allem den Vater zu lieben. Er sitzt am Schreibtisch, er schreibt sein Buch, er sträubt sich gegen die eigenen Gefühle: „Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. … Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“

„Eine Erinnerung“, schreibt Edgar Selge auch, „ist noch keine Erzählung. Soll sie das werden, beginnt die Fiktion“.