„Sie war; sie wurde; sie wurde nichts.“

Die Beschreibung "einer grausigen offenen Wunde", so der Klappentext: Handke über seine Mutter.

Peter Handke ist dieser Tage 80 geworden – was die SZ zum Anlass genommen hat, sich zu erinnern an die Zeit, als er ein junger Schriftsteller war. Damals war er der Popstar der Szene, er trug gern eine dunkle Brille, er hatte eine Pilzkopf-Frisur. Sein Name führte oft die Bestseller-Listen an, die Suhrkamp-Ausgaben seiner Bücher erreichten sechsstellige Auflagen. Die Theaterstücke „Publikumsbeschimpfung“, „Selbstbezichtigung“ oder „Kaspar“ wurden viel beachtet. Und: Er war viel auf Lesereisen und gab bereitwillig Interviews. In den Folgejahren veröffentlichte er dann all das, wofür ihm letztlich wohl der Nobelpreis verliehen worden ist. All die schönen Texte mit ihren schönen Titeln: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, später verfilmt von Wim Wenders, „Der kurze Brief zum langen Abschied“, vor allem aber „Wunschloses Unglück“, das Buch über seine Mutter, die sich mit 51 Jahren das Leben genommen hatte.

„Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit meine Mutter tot ist“, beginnt Handke seine Aufzeichnungen, „und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurückverwandelt, mit der ich auf die Nachricht von dem Selbstmord reagierte.“ Dann erzählt er ihr Leben: „Es begann also damit, daß meine Mutter vor über fünfzig Jahren im gleichen Ort geboren wurde, in dem sie dann auch gestorben ist.“ Sie war die auf Bildern, die am meisten lachte, sie war lebensfroh. „Die Zeit verging zwischen den kirchlichen Festen, Ohrfeigen für einen heimlichen Tanzbodenbesuch, Neid auf die Brüder, Freude am Singen im Chor.“ Sie bekommt während der NS-Zeit Peter, unehelich, den Offizier, den sie dann heiratet, heiratet sie nur, damit sie nicht allein bleibt. Die Ehe: eine ziemliche Hölle, die zwei hassen sich, er trinkt, aber sie trennen sich nie ganz. Sie schüttelte sich zwischendurch oft vor Ekel und vor Elend, Handke: „Ein lächerliches Schluchzen in der Toilette aus meiner Kinderzeit her, ein Schnäuzen  rote Hasenaugen. Sie war; sie wurde; sie wurde nichts.“ Und irgendwann war in ihr kein Leben mehr vorhanden. 

1972 hatte Handke das Buch über seine Mutter fertig, Mitte der 70er begann er, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Er sagte Auftritte ab, er schrieb an Unseld, seinen Verleger: „… (ich) fühle … mich herausgelöst aus dem Bezugssystem der deutschen Literatur“. Und damit änderte sich dann auch, was er schrieb, sein tastender, „gewollt ungelenker … Satzbau“, so Andreas Bernard in der SZ, stellte sich ein. Er entwickelte eine Hybris, die weder ihm noch seiner Arbeit guttat, er wollte „die Menschheit wieder das Lesen lehren“. Aber„Wunschloses Unglück“ sollte man mal wieder lesen.