Uwe Wittstock hatte sich schon in seinem letzten Buch mit dem Schicksal von Schriftstellern in der – in dem Fall nahenden – NS-Zeit beschäftigt, es hieß: „Februar 33. Der Winter der Literatur“. Jetzt hat er ein weiteres Buch über das Thema geschrieben, diesmal spielt, was er erzählt, in Marseille. 1940. Die Deutschen haben gerade Frankreich besetzt, und das Land, in das so viele Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle, Juden geflohen waren, wurde zur Falle. Untertitel des Buchs: „Die große Flucht der Literatur.“
Dabei ist die zentrale Figur, um die sich in der Zeit vieles dreht, Varian Frey, ein junger Amerikaner, Journalist, der im Juni 1940 in New York zusammen mit ein paar Mitstreitern das Emergency Rescue Committee gegründet hat – zu dem Zweck, den in größte Bedrängnis geratenen Exilanten in Frankreich zur Ausreise zu verhelfen.
Man hat das natürlich alles gewusst: dass Lion Feuchtwanger in ein Internierungslager gesteckt worden war, dass von den Manns noch Heinrich und Golo in Frankreich waren, dass Walter Benjamin, nachdem genau in der Nacht, in der er über die Grenze nach Spanien hatte fliehen wollen, diese Grenze geschlossen worden ist, sich auf der Flucht das Leben nahm. Aber man kannte in kaum einem Fall die näheren Umstände – und die schildert nun Wittstock in seinem bestens geschriebenen Buch.
Man erfährt, wie unheimlich dramatisch die Flucht von Anna Seghers mit ihren zwei Kindern von Paris verlaufen ist, wie sie nicht mehr können, wie sie sich in aufgegebenen Häusern verstecken, ihre Pässe verbrennen, dann kommen die Deutschen. Wie Lion Feuchtwanger in wirklich letzter Minute rauskommt aus Les Milles, wie er überhaupt ohne seine tatkräftige Frau Marta, die er so oft betrogen hatte, nicht überlebt hätte. Während die Straßen verstopft, komplett verstopft waren, weil alle sich voller Panik aufgemacht hatten in den ja unbesetzten Süden – und die Deutschen dann die verstopften Straßen bombardierten.
Max Ernst, dem das Ausreisevisum fehlt, darf am Ende doch raus aus Frankreich – einfach, weil er in seiner Verzweiflung mitten auf dem Bahnhof die Bilder, die er in den letzten Wochen gemalt hat, die er mitnehmen will, ausbreitet. Der Grenzer, der seinen Pass schon beschlagnahmt hat, lässt ihn jetzt doch durch. Derweil sind auch Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel auf der Flucht, sie haben zwölf Koffer dabei, die schnell verloren gehen – und die sie wunderbarerweise wieder bekommen. Der österreichische Schriftsteller Hans Natonek hat am 11. Juni 1940 beschlossen, Paris zu verlassen. Er hat kein Auto, er weiß überhaupt nicht, wie er wegkommen soll aus der Stadt, aber er packt trotzdem seine Sachen, zwei Pelze hat er noch, die er noch schnell bei einem Kürschner versetzen will. Er verkauft sie dem dann auch. In dem Moment hält ein Auto vor der Tür, der Schwager des Kürschners will sich von der Schwester verabschieden, er ist auf dem Weg in den Süden – und im Auto ist noch ein Platz frei.
Uwe Wittstock hat für sein Buch Briefe und Tagebücher der Beteiligten gelesen, er schreibt im Vorwort, die erzählten Schicksale sollen „stellvertretend stehen für alle die, von denen wir zu wenig wissen, um noch von ihnen erzählen zu können“.
Varian Frey, der, weil er einiges eigenmächtig entschied, im eigenen Comittee nicht unumstritten war und immer wieder aufgefordert wurde, zurückzukommen und einen anderen ans Ruder zu lassen, was er nicht machte, hat letztlich über 2000 Betroffenen rausgeholfen aus Vichy-Frankreich. Er verhalf ihnen zu Plätzen auf Schiffen nach Martinique, er tat für sie Fluchtrouten nach Spanien über die Berge auf und ließ sie von der unerschrockenen Lisa Fittko über die Berge führen. Er verschaffte ihnen die völlig sinnlosen Ausreisegenehmigungen aus Frankreich, die dann nötigen Transitvisa für Spanien und die Einreisegenehmigungen ins neutrale Portugal. Manche unterstützte er regelmäßig mit Geld. Zu seinen Leuten gehörte auch die schillernde Amerikanerin Mary Jayne Gold, die unheimlich reich war, sehr großzügig, für Frey agierte und sich heillos in einen Betrüger von der Straße verliebte.
Frey war nur ein gutes Jahr in Marseilles gewesen, auch er wurde dann ausgewiesen, weil seine Dokumente abgelaufen waren – und ihm auch das eigene Konsulat nicht helfen wollte. Er führte, zurück in New York, kein wirklich glückliches Leben. Er arbeitete wieder als Journalist, er gründete Familie, aber immer wieder bekam er Depressionen. Nur eine Ehrung erfuhr er zu Lebzeiten. 1996, da war er seit 29 Jahren tot, pflanzte sein Sohn James für ihn einen Baum in Yad Vashem.
Das Buch enthält einige wenige Fotos, auch eins von der sehr jungen Hannah Arendt, die im Februar 1941 aus ihrem Zufluchtsort Montauban entkommt nach Portugal. Allerdings muss sie ihre Mutter in Frankreich zurücklassen.