Annie Ernaux muss man sowieso lesen. Alle Bücher, die jetzt bei Suhrkamp neu verlegt worden sind. Geschrieben hat die Autorin, die sich als Ethnologin ihrer selbst begreift, die Geschichten aus ihrem Leben ja schon in den 70er Jahren. Unvergesslich der erste Satz des Buches „Die Scham“, er geht so: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“
Ich habe jetzt gerade „Das Ereignis“ gelesen, es ist die Geschichte, wie Ernaux, eine junge Studentin Anfang 20, ungewollt schwanger wird und das Kind dann abtreibt. Was sich so leicht hinschreibt, damals waren Abtreibungen illegal, und wer sich trotzdem dazu entschloss, musste sich oft Menschen anvertrauen, in deren Behandlung man sich unter normalen Umständen nicht begeben hätte. Und erstmal musste man diese Menschen finden, niedergelassene Ärzte halfen einem natürlich nicht weiter, sie hätten sich ja strafbar gemacht.
Annie, die ihre Schwangerschaft verknüpft mit den prekären Verhältnissen, aus denen sie stammt und denen sie über ihr Studium dabei ist, zu entfliehen, bekommt die Adresse dieser etwas seltsamen älteren Frau mit den grauen dünnen Haaren, die letztlich dafür sorgt, dass ihr Kind abgeht, über eine Bekannte. „Ich sah Madame P.-R. nie wieder. Ich habe nie aufgehört, an sie zu denken. Ohne dass es ihr bewusst war, hatte mich diese vermutlich geldgierige Frau – die trotzdem in ärmlichen Verhältnissen lebte – meiner Mutter entrissen und in die Welt geworfen.“
Sehr spannend finde ich auch, was Annie Ernaux darüber schreibt, wovon sie „zutiefst überzeugt“ ist: „Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte. Und das wahre Ziel meines Lebens ist vielleicht einfach dies: dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken zu Geschriebenem werden, zu etwas Verständlichem und Allgemeinem also, dass meine Existenz vollkommen im Kopf und im Leben der anderen aufgeht.“
Annie Ernaux, Jahrgang 1940, hat immer als Lehrerin gearbeitet. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, und heuer, mit 82 Jahren, hatte sie ihr Debüt als Regisseurin. Letzter Satz von „Die Scham“: „Danach lag dieser Sonntag wie ein Filter zwischen mir und allem, was ich erlebte.“