Ich lese gerade Hans Carossa. Carossa war Arzt und Schriftsteller, er ist in Bad Tölz geboren, unter anderem in Königsdorf aufgewachsen, hat dann in Passau praktiziert, später in Seestetten bei Passau gewohnt. Eine Weile lebte er auch in München, und zwar lebte er in München genau in der Phase, in der sich in der Maxvorstadt die Künstler trafen, in Schwabing die Künstler das Sagen hatten, im Simpl umsonst konsumieren durften, wenn sie dafür ein Gedicht rezitierten oder der Wirtin, der geschäftstüchtigen Kathi Kobus, ein Bild überließen. Derweil kritzelten Klee und Kubin im Café Stefanie die Tische voll mit ihrer Kunst. Carossa hatte damals gedacht, das sei der Aufbruch in eine neue Zeit, der vielversprechende Anfang einer Entwicklung – 15, 20 Jahre später, 1943, mitten im Krieg, kam er von einer Italienreise zurück, auf die er sich begeben hatte, um genau NICHT der Versammlung des NS-konformen Europäischen Schriftstellerverbands beiwohnen zu müssen, auf der ihn die Parteiführung unbedingt sehen hatte wollen, am Café Stefanie vorbei. Er kapierte erst gar nicht, was er eigentlich sah, was er sah, war nämlich das Fehlen von Außenmauern, er sah den Kronleuchter seines Zwischendurch-Wohnzimmers, der aufsaß auf dem Schutthaufen, der sonst übrig geblieben war vom Stefanie. In dem Moment wurde ihm klar, dass das, was er als den hoffnungsfrohen Beginn einer neuen Zeit betrachtet hatte, nur ein Ausnahmezustand gewesen war, ein kurzer Ausnahmezustand.
Carossa hat 1951 in dem schön zu lesenden, bewegenden Buch „Ungleiche Welten“ nicht nur versucht, zu verstehen, wie die Nazis in München an die Macht kommen konnten, sondern er reflektiert darin auch die eigene Rolle. Überlegt noch einmal, warum er nicht emigriert ist, er beschreibt ziemlich eindrucksvoll, wie die Bevölkerung eines ganzen Landes abstumpfte, was es andererseits bedeutete, wenn man in einem Brief, den der NS-ferne Schriftsteller Karl Voßler vom NS-fernen Kollegen Benedetto Croce bekommen hatte, auf einem eigens eingeklebten Zettel die Bemerkung des italienischen Zensors las: „Der Zensor verneigt sich in Ehrfurcht vor Croce und Voßler“. Carossa schreibt: „Jeder Tag entzog uns etwas von unserem Wesen“, er schreibt: „Keine Schuld verringert sich dadurch, dass auch die anderen schuldig werden.“ „Ungleiche Welten“ hat viele bewegende, beklemmende, schöne Stellen, gegen Ende schreibt Carossa: „Statt von fremden Völkern geringschätzig zu reden, horchet lieber auf ihre Gesänge!“ Und dann erzählt er kurz von Sun-Yat-sen, einem der „großen Erwecker des neuen China“, der jedesmal, wenn er in eine Gesellschaft kam, „um drei Minuten gemeinsame Enthaltung vom Sprechen“ bat, „damit jeder sich sammle und seine wahre innere Stimme vernehme“.